Am Kammergericht Berlin beginnen ab Montag die „Girocard-Wochen“. Das Landgericht Berlin verhandelt vom 7. November bis zum 2. Dezember im altehrwürdigen Gebäude des Kammergerichts insgesamt zwölf Kartellschadensklagen gegen die vier Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft. Es geht um Schadenersatzforderungen in Höhe von insgesamt rund 150 Mio. Euro wegen angeblich kartellbedingt überhöhter Girocard-Gebühren im Zeitraum von 2004 bis 2014. Zu den Klägern gehören unter anderen Rossmann, Deichmann, Norma, die Deutsche Bahn, die Deutsche Post und eine ganze Reihe von Mineralölunternehmen.
Die erste Klage in der Sache wurde von der Kanzlei Hausfeld vor fast fünf Jahren für die Jet-Tankstellen eingereicht. Eigentlich ein Justizskandal, dass die Parteien so lange bis zur Eröffnung der mündlichen Verhandlungen warten mussten. In Kartellschadensfällen ist die Langatmigkeit von Justitia allerdings kein „typisch Berlin“-Problem. Die Experten für solche Prozesse bei der Deutschen Bahn mussten auch vor dem LG Köln schon mal fünf Jahre bis zum ersten Termin warten. „Kartellschadensklagen dauern in Deutschland zu lang“, sagt Dr. Tilman Makatsch, Leiter der Abteilung, die für die Bahn Kartellschäden in Millionenhöhe eintreibt. Die 12. GWB-Novelle soll das im nächsten Jahr ändern, verspricht das BMWK.
Die Girocard-Verfahren sind allerdings auch keine gewöhnlichen Kartellschadensklagen. Bei sogenannten Follow-On-Klagen (LKW, Schienen, Zucker, etc,) wird üblicherweise auf Grundlage eines Bußgeldbescheids des Bundeskartellamts oder der EU-Kommission geklagt. Die amtliche Feststellung des jeweiligen Kartellverstoßes bindet die Zivilgerichte und da nach der Rechtsprechung ein Kartell erfahrungsgemäß zu höheren Preisen für die Kunden führt, drehen sich die Kartellschadensprozesse in der Regel dann nur noch jahrelang mit teuren ökonomischen Gutachten um die Höhe des entstandenen Schadens.
Einen solchen Bußgeldbescheid gibt es im Girocard-Fall nicht. Das Bundeskartellamt hat zwar im Jahr 2011 ein Kartellverfahren gegen die vier Bankenverbände (DSGV, BVR, BdB, ÖVB) eingeleitet. Dieses Verfahren wurde aber 2014 eingestellt, nachdem die Banken in einer Verpflichtungserklärung zugesagt hatten, die Händlergebühren künftig in einem Konzentratorenmodell mit den Kartenakzeptanten zu verhandeln.
Bis zu diesem Zeitpunkt betrug das „einheitliche Händlerentgelt“ im electronic cash-Verfahren seit seiner Gründung 1990 0,3 Prozent vom jeweiligen Kartenumsatz, mindestens aber 8 Cent. Nur die Mineralöler genossen als Dank für ihre Aufbauhilfe beim EC-Cash-System einen privilegierten Tarif von 0,2 Prozent. Umso bemerkenswerten, dass so viele Tankstellenbetreiber nun zu den Klägern gehören.
In dem Beschluss gibt es nur eine „vorläufige Beurteilung“ des Kartellamts, laut der das einheitliche Händlerentgelt eine rechtswidrige Wettbewerbsbeschränkung war (S. 7). Kernfrage des Verfahrens wird also: Waren die einheitlichen Kartengebühren, die Händler und andere Kartenakzeptanten bis zum Jahr 2014 für Umsätze mit der Girocard (früher: EC-Karte) an die deutschen Banken zahlen mussten, eine rechtswidrige Kartellabsprache, die einen Schadenersatzanspruch nach sich zieht? Und wenn ja, wie hoch ist dieser Schaden? Was wären die „richtigen“ Kartengebühren gewesen?
Die Banken berufen sich auf eine Freistellung des Bundeskartellamts aus der Gründerzeit. Kartellschadensprozessen um die Girocard-Gebühren. Die weitere Argumentation habe ich hier mal angerissen. Die Kläger argumentieren, die Freistellung sei mit falschen Behauptungen erschlichen worden und zum betreffenden Zeitraum nicht mehr gültig gewesen. „Die Banken haben sich preislich abgesprochen und auf diese Weise von Händlern zu hohe Girocard-Gebühren verlangt“, brachte es ein Sprecher von Deichmann schön auf den Punkt. Es habe sich um ein „klassisches Kartell“ gehandelt. Freilich war das Kartenkartell zumindest insofern untypisch, als das den Kunden die Vereinbarung bekannt war. Üblicherweise finden Kartelle ja im Stillen statt.
Wie Leser von Bargeldblog natürlich wissen, gab es ähnliche Verfahren zB in UK gegen Mastercard und Visa, die von Händlern angestrengt wurden. Sie endeten stillschweigend in millionenschweren Vergleichen. Es wird also spannend vor der für Kartellstreitigkeiten zuständigen 16. Zivilkammer des Landgerichts Berlin, das wegen des erwartet großen Andrangs ausnahmsweise im „Dienstgebäude des Kammergerichts“ verhandeln darf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist bei Kartellschäden sehr klägerfreundlich. Das Hat der BGH jüngst noch einmal mit dem Urteil zum „Stahl-Strahlmittel-Kartell“ verdeutlicht und er wird es sicher bald in seinem Urteil zum Drogeriewarenkartell (Schlecker ./. Beiersdorf u.a.) nochmals unterstreichen.
Das LG Berlin nennt die Streitparteien aus „Datenschutzgründen“ nicht. Daher hier nur unbestätigt, was man so aus dem Markt hört:
Aktenzeichen, Verhandlungsdatum, Kläger, Schadenersatzforderung
Az. 16 O 110/18 Kart, 07.11.2022, Rossmann, 9,1 Mio. Euro
Az. 16 O 167/18 Kart, 08.11.2022, div. Markant-Mitglieder, 30 Mio. Euro
Az. 16 O 262/18 Kart, 10.11.2022, Mineralölwirtschaft, 4,1 Mio. Euro
Az. 16 O 309/17 Kart, 14.11.2022, Jet, 33 Mio. Euro + 600.000 Gutachterkosten
Az. 16 O 319/20 Kart, 15.11.2022, Deichmann, 9,5 Mio.
Az. 16 O 18/20 Kart, 17.11.2022, Mineralölwirtschaft, 8 Mio. Euro
Az. 16 O 21/19 Kart, 21.11.2022, Deutsche Bahn AG, Deutsche Post, 20,1 Mio. Euro
Az. 16 O 307/19 Kart, 22.11.2022, Mineraölwirtschaft, 2,89 Mio. Euro
Az. 16 O 479/19 Kart, 24.11.2022, Mineralölwirtschaft, 4,2 Mio. Euro
Az. 16 O 8/20 Kart, 28.11.2022, Norma (?), 100.000 Euro
Az. 16 O 387/18 Kart, 29.11.2022, Mineralölwirtschaft, 25,6 Mio. Euro
Az. 16 O 25/20 Kart, 01.12.2022, Mineralölwirtschaft, 1 Mio. Euro
Bestätigt z.B.: Norma, Esso, Shell, Jet, Rossmann, Deichmann, DB, Post