Die Geschichte der Kartenzahlung im deutschen Einzelhandel ist nicht die Geschichte von Klassenkämpfen, sondern ein dauerhafter Konkurrenzkampf zwischen dem elektronischen Lastschriftverfahren (ELV) und dem EC-Cash-(heute: Girocard-)Verfahren der deutschen Kreditwirtschaft. Im Folgenden versuche ich, eine kleine und hoffentlich kurzweilige Historie dieser Auseinandersetzung zwischen Handel und Banken wiederzugeben – ohne Anspruch auf letzte Wahrheiten oder Vollständigkeit.
Der Computer mit Drucker kostete Ende der 1980er Jahre rund 4.000 D-Mark. Horst Rüter kann sich gut daran erinnern, wie er an der Kasse im Elektromarkt zehn einzelne Eurocheques ausfüllen und unterschreiben musste, um den Einkauf zu bezahlen. „Das hat fast eine halbe Stunde gedauert. Die Bezahlung mit Schecks war weder für den Handel noch für die Kunden bequem. Über viele Jahre war der Eurocheque aber die einzige relevante Alternative zum Bargeld“, sagt Rüter, Mitglied der Geschäftsführung im EHI Retail Institute und seit 33 Jahren im Forschungsbereich Zahlungssysteme tätig der Kölner Handelsexperten tätig.
Im kommenden Jahr feiert der Arbeitskreis sein 40-jähriges Bestehen. Damals, 1984, begann es langsam spannend zu werden an den Kassen des Handels, denn mit der Kreditkarte und später der EC-Karte kamen neue Zahlungsmittel auf, die sich Stück für Stück ihren Weg bahnten, sehr langsam, aber unaufhaltsam. Zuvor war die Geschichte des Bezahlens an der Supermarktkasse über Jahrzehnte die Geschichte des Bargelds. Seit 1994 erfasst Rüter Jahr für Jahr die Anteile der Zahlungsverfahren im Einzelhandel und liefert jeweils zum EHI-Kartenkongress im Frühjahr die wohl verlässlichsten und umfassendsten Zahlen zum Zahlen.
Bargeld liegt noch immer vorn
Deutschland gilt als Land der Bargeld-Liebhaber und das spiegelt sich in den EHI-Statistiken über einen langen Zeitraum wider. Im Jahr 1994 belief sich der Anteil der Umsätze, die an den Kassen des Einzelhandels mit Scheinen und Münze erlöst wurden, noch auf knapp 80 Prozent. Der Eurocheque kam damals auf 8,3 Prozent, Kreditkarten nur auf 3,3 Prozent. Erst im Jahr 2017 erreichten Bargeld und Kartenzahlungen umsatzbezogen einen Gleichstand. Im vergangenen Jahr wurden an den Kassen im Einzelhandel nur noch 37,5 Prozent bar erlöst. Beim Anteil der Transaktionen liegt das Bargeld mit rund 60 Prozent aber nach wie vor auf Platz eins in der EHI-Statistik.
Kartenzahlungen kamen im deutschen Handel Anfang/Mitte der 80er Jahre auf. Die Bekleidungshäuser Peek & Cloppenburg und Ludwig Beck in München gehörten zu den Pionieren des bargeldlosen Bezahlens im Handel. Kreditkarten waren in Deutschland aber kaum verbreitet und den Händlern zu teuer. Sie nutzten lieber die Eurocheque-Karten der Banken, die inzwischen nicht mehr nur als Legitimationspapier zum Scheckausstellen dienten, sondern als Plastikkarte auch an Geldautomaten zum Einsatz kamen.
Die unscheinbare Besonderheit
Eine unscheinbare Besonderheit dieser Bankkarten führte dazu, dass Deutschland bei der Kartenzahlung am POS in Europa und weltweit bis heute eine Sonderstellung einnimmt. Zudem entbrannte ein jahrzehntelanger Machtkampf zwischen Handel und Banken. Auf der sogenannten „Spur drei“ des Magnetstreifens der deutschen EC-Karten befanden sich die Informationen zu Bankleitzahl und Kontonummer des Karteninhabers. Mithilfe dieser Daten konnte eine klassische Lastschrift erzeugt und bei der betreffenden Bank eingereicht werden. Dieses von den Banken unabhängige „wilde Lastschriftverfahren“ wurde zu einer Erfolgsgeschichte und zur dauerhaften Konkurrenz des offiziellen EC-Cash-Systems des Zentralen Kreditausschusses (ZKA), in dem die deutschen Banken zu jener Zeit organisiert waren.
Die Lastschriften konnten abends in einem Schwung als sogenannte „Stapelverarbeitungsdatei“ an die Banken übermittelt werden. Das sparte die damals noch enorm teuren Online-Übertragungszeiten. Einziger Haken: Bei fehlender Kontodeckung oder missbräuchlicher Verwendung der Karte drohten Rücklastschriften und Zahlungsausfälle. „Wer damals eine EC-Karte besaß, verfügte jedoch in der Regel über eine gute Bonität, sodass es nur selten zu Rücklastschriften kam“, sagt Paymentexperte Nicolas Adolph. „Wenn doch mal eine Lastschrift platzte, zeigten sich die Banken kulant und gaben die Adresse des säumigen Kunden bekannt“, erinnert sich Adolph. Sein Vater Eberhard Adolph gehörte mit der Firma Alldata zu den Pionieren des „Ektronischen Lastschriftverfahrens“ (ELV). In den frühen 1990er Jahren kamen die InterCard in München und die Mannesmann Datenverarbeitung, die spätere Easycash, als weitere Pioniere hinzu.
Kreditwirtschaft baut eigenes Kartenverfahren auf
Die deutsche Kreditwirtschaft arbeitete nahezu parallel am Aufbau eines eigenen Kartenzahlungssystems. In Ravensburg und Regensburg wurden mit Hotels, Gastronomen und Händlern Piloten durchgeführt. Doch die Kosten für die Lesegeräte und die Datenleitungen waren horrend. Richtig zum Fliegen kam das 1991 eingeführte EC-Cash-System mit PIN-Prüfung erst durch die Tankstellenbetreiber. Lebensmittelhändlern war die Kartenakzeptanz noch lange Zeit zu teuer. Dabei spielten die Autorisierungsgebühren von 0,3 Prozent des Kartenumsatzes und mindestens 15 Pfennig noch gar keine Rolle. Die Banken glaubten dennoch, dass sich ihr System mit Zahlungsgarantie auf Dauer durchsetzen werde. Im Jahr 1992 entschieden die Banken daher, das ELV-Verfahren nebenher zu dulden, um Kartenzahlungen handelsüblich zu machen. Der Handel hielt dagegen das kostengünstigere, kartengestützte Lastschriftverfahren für überlegen. „Das System erschließt neue Kundenkreise, denn für viele Verbraucher ist der PIN-Code zu kompliziert“, urteilte Hubertus Tessar, damals Sprecher des Handelsverbands HDE.
Der „War on cash“ als „War on profit“
Es dauerte weitere Jahre, bis sich auch der Lebensmittelhandel für die Kartenakzeptanz erwärmen konnte. „Nach jahrelanger Ablehnung gewinnt die Karte als Zahlungsmittel am Point of Sale eine immer stärkere Bedeutung“, schrieb die „Lebensmittel Zeitung“ im Februar 1995 über die ersten Gehversuche bei Tegut, Rewe, Edeka Hessenring und Tengelmann. Der „War on Cash“, den die Banken führen wollten, war aus Sicht des Handels lange Zeit ein „War on Profit“. So lautete das Mantra von Robert Herzig, der bei der Metro AG für das Kartengeschäft verantwortlich war, als die Düsseldorfer noch zu den Dax-30-Unternehmen gehörten. Das Verhältnis zwischen Handel und Kreditwirtschaft blieb schwierig. „Die Banken sahen den Handel nicht als Partner auf Augenhöhe, sondern wollten uns ihre Bedingungen diktieren“, erinnert sich Paul Monzel, seinerzeit Leiter des Funktionsbereich Payment Services bei der Rewe Gruppe.
Erste Gehversuche im LEH
Bankunabhängige Zahlungsdienstleister wie Intercard und Easycash spezialisierten sich in den folgenden Jahren immer mehr darauf, die kartenbasierten Lastschriften mit Onlineabfragen von Sperrdateien und anderen Mechanismen abzusichern. Sogenannte Mischverfahren, bei denen nur ein geringer Teil unsicherer Karten per teurer PIN-Prüfung autorisiert werden musste, ohne das der Kunde dies bemerkte, sorgten für eine hohe Kosteneffizienz, die im internationalen Vergleich ihresgleichen suchte. ELV-Zahlungen waren im Handel daher bis ins Jahr 2007 verbreiteter als die EC-Cash-Transaktionen im offiziellen System der deutschen Kreditwirtschaft.
Das weckte Begehrlichkeiten bei den Banken. Im Jahr 2000 startete der Zentrale Kreditausschuss (ZKA) den Versuch, beim Bundeskartellamt ein Interbankenentgelt für ELV-Zahlungen anzumelden. Eine Gebühr von mindestens 35 Pfennig sollte für eine Transaktion im Lastschriftverfahren anfallen. Der damalige Berichterstatter der Beschlussabteilung war der heutige Präsident des Bundeskartellamts, Andreas Mundt.
Den Abwehrkampf für den Handel organisierte Stefan Schneider, damals Geschäftsführer im HDE. Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) lud Schneider zur Pressekonferenz in die Bundespressekonferenz, um die Öffentlichkeit über die Pläne der Banken zu informieren. „Die Printmedien schrieben unisono von der ‚heftig umstrittenen EC-Gebühr‘. Damit standen die Banken und Sparkassen in der Öffentlichkeit auf verlorenem Posten“, erinnert er sich. Als auch das Kartellamt signalisierte, den Daumen zu senken, zog der ZKA seinen Antrag zurück. Das ELV-System blieb von Bankgebühren verschont.
Sonderkonditionen für die Discounter
Den kostenoptimierten Discountern Aldi und Lidl waren der Aufwand des Belegmanagements und die Gebühren für die Zahlungsdienstleister dennoch zu hoch. Wer bei Aldi einen Volkscomputer kaufen wollte, musste davor deshalb vorher zum Geldautomaten – und zwar dreimal. Erst eine Sondervereinbarung mit den Banken, die ihnen günstigere EC-Cash-Gebühren zubilligte, führte dazu, dass auch Aldi und Lidl 2005 und 2006 schließlich EC-Karten akzeptierten. „Die ersten Gespräche haben wir bei Aldi mit Ulrich Wolters im Jahr 2001 geführt“, erinnert sich Friedrich Berger, der damals Direktor der Westdeutschen Landesbank war. Die West LB organisierte die Kickback-Zahlungen, mit denen die privilegierten EC-Cash-Gebühren für Aldi, Lidl, Metro & Co. jahrelang realisiert wurden.
Als auch die Edekabank im März 2011 Sonderkonditionen erhielt und der Tankstellenbetreiber Aral zuvor 2009 vom reinen EC-Cash-Betrieb zum billigeren Mischverfahren wechselte, geriet das „einheitliche Händlerentgelt“ der Deutschen Krefitwirtschaft (DK) derart unter Druck, dass das Kartellamt in Bonn aufgrüttelt wurde und erneut Ermittlungen einleitete. Das Märchen von der technischen Notwendigkeit von „einer Gebühr für alle“ ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. 2011 – die EC-Karte hieß inzwischen Girocard – leiteten die Wettbewerbshüter ein Verfahren gegen die Verbände der Kreditwirtschaft ein. Sie sahen in dem einheitlichen Händlerentgelt von 0,3 Prozent vom Umsatz eine Wettbewerbsbeschränkung. Erst die Verpflichtungserklärung der Banken, das seit 1990 gültige Entgelt ab 2014 mit den Kartenakzeptanten zu verhandeln, führte zur Einstellung des Verfahrens. Nur ein Jahr später deckelte die EU-Kommission mit der Interchange-Verordnung die Interbankenentgelte für Kredit- und Debitkarten europaweit auf 0,3 bzw. 0,2 Prozent vom Umsatz, was einen neuen Schub auch für die Kreditkartenakzeptanz im LEH, selbst bei den Discountern, auslöste.
Noch mehr Dynamik entfaltete allerdings die Corona-Pandemie auf Kartenzahlungen im Handel. Die Angst vor der Ansteckung veränderte auch die Gewohnheiten an der Kasse und beflügelte die kontaktlosen Kartenzahlungen in einem bis dato ungekannten Ausmaß.
Abspann & Danksagung
Dieser Text erschien zuerst in der Jubiläumsausgabe der „Lebensmittel Zeitung“ für die ich gebeten wurde, etwas zum Thema „Kartenzahlungen“ zu schreiben. Ich fürchte, der Text mit dem Originaltitel „Der lange Abschied vom Bargeld“ ist in der 184-Seiten-Ausgabe zum 75sten der LZ mit sehr vielen starken Beiträgen und spannenden Interviews etwas untergegangen. Daher veröffentliche ich ihn hier nochmal für interessierte, kartenaffine Kreise. Ich habe ein paar nette Reaktionen auf den Beitrag bekommen („Genau so war es“) und habe ihn hier und da etwas überarbeitet. Ich bedanke mich bei meinen Gesprächspartnern, die nicht alle namentlich aufgeführt sind, für die interessanten Erläuterungen und Hinweise. Ich nehme gerne Anmerkungen, eigene Anekdoten und Korrekturen entgegen. Ich werde mir erlauben, den Text nachzubessern bzw. zu ergänzen. 🙂
Was fehlt: Der „Datenskandal“. Die Enthüllungsgeschichte von NDR Info zu etwaigen Plänen der damaligen Easycash, die Kundendaten aus den ELV-Transaktionen für Marktforschungszwecke zu nutzen. Die Berichterstattung dazu sorgte dafür, dass sich Rewe von Easycash trennte und einen eigenen Netzbetrieb aufbaute. Zudem wurden die Einwilligungserklärungen auf den Kassenzetteln für das ELV-Verfahren in Absprache mit Datenschutzbehörden geändert. Rewe hat den Schritt in die Payment-Selbstständigkeit nie bereut (siehe auch Paymenttools und „Wer macht eigentlich inzwischen den Netzbetrieb von Douglas?“). Ich habe es dem Skandal zu verdanken, von „Spiegel Online“ zum „Handelsexperten“ gekürt zu werden.
Was noch fehlt: Die Geldkarte bzw. Girogo und Lucky Luke, der Mann, der schnelle als sein Schatten zieht. Mangels Marktrelevanz. Eine weitere nationale Sonderlocke in der Kartenwelt.
Was ebenfalls fehlt: Fatale Chip-Karten-Fehler, streikende H5000-Terminals und der Segen von ELV als Back-up-System.
Was daraüber hinaus fehlt: Das SEPA-Drama und der Kampf um die SEPA-Lastschrift.
Was zusätzlich fehlt: Die undankbaren Kartellschadenersatzklagen von Händlern und Mineralölgesellschaften gegen die Deutsche Kreditwirtschaft wegen des einheitlichen Händlerentgelts.
Wer fehlt: Eckart van Hooven, „Pope of the eurocheque“, ohne van Hooven keine Eurocheque-Karte, ohne Eurocheque-Karte…
Ich wünsche allen Lesern und Abonennten von BargeldlosBlog schöne und ruhige Weihnachtstage und ein glückliches und friedlichen Neues Jahr!
Hanno Bender
Es gab schon zu „Eurocheque“-Zeiten einen (kleinen) Fortschritt: Ein paar Jahre lang war es üblich (zumindest in den hiesigen Elektromärkten), dass die Eurocheques von der Kasse bedruckt werden konnten, was dann doch ein wenig Zeit gespart hat. Also man gab der Kassenkraft einen Blanko-Eurocheque; dieser wurde von der Kasse mit dem Rechnungsbetrag/Datum/etc. bedruckt, und dann hat man nur noch (hinten) seine Kartennummer und (vorne) seine Unterschrift drauf gesetzt, und fertig.
Armselig war dabei allerdings, dass es die Programmierer nicht geschafft haben, ein (durchaus vorhandenes) „Number-To-Text“-Modul in ihre Kassensoftware zu integrieren. Bei 123 Euro stand dann im Feld „Betrag in Buchstaben“ nicht etwa „einhundertdreiundzwanzig“, sondern sowas wie „*eins*zwei*drei*“. Das konnte ich mit meinem BASIC-Homecomputer ja schon besser 🙂
Ein Highligt, danke für die Zeilen!
Fühlt man sich doch an der einen oder anderen Stelle von der Vergangenheit eingeholt:
ZKA, 35 Pfennig, Easycash, EC Karte….und mein persönliches Highlight: Lucky Luke -> der Held meiner Jugend, der alle Duelle gewann….bis girogo als Gegner zu stark war….. 🙂
Ein schöner Rückblick, Hanno! Lehrreich für Digital Natives und zum Schmunzeln für die grauen Veteranen. War die Geburtsstunde des ec cash-Systems aber nicht früher: Pilotprojekte auf Basis der ec-Karte in Berlin und München 1985?
Die erste GZS-Händlergebühr: 0,2% + 7 Pfennige habe ich noch gut in Erinnerung. Damals in der GZS war ich 1984 bei der Berechnung dieser Gebühr involviert. Monatelang haben wir (zweistellig hinter dem Komma) herumgerechnet (ohne Excel!) und Business Cases für die erwarteten Einnahmen und Ausgaben aufgestellt. Es gab ein Gerücht, dass ein ZKA-Marketingausschuss nach dem Mittagessen (inkl. Rotwein) die oben genannte Gebühr festgelegt hat und sich dabei ordentlich (vor dem Komma) verrechnet hat. Das Gerücht war für mich als Zahlen-Freak irgendwie frustrierend.
By the way: Wann endet eigentlich die Verschwiegenheitspflicht? Nach 40 Jahren?
Stephan Klein (heute GF bei Governikus in Bremen) hatte übrigens die ec-cash-Entstehungsgeschichte in seiner Dissertation „Hürdenlauf electronic cash“ (1993) auf Basis interner unveröffentlichter Dokumente minutiös recherchiert. Ein Leckerbissen für Wirtschaftshistoriker und für die, die die komplizierte 3,5-Parteien-Struktur des Systems verstehen wollen. Das Buch (herausgegeben als à la Card-Fachbuch von Meike Wolff) ist leider äußerst selten. Es gibt bundesweit nur 5 Exemplare in Universitätsbibliotheken.